Wenn es heißt man habe in diesem Leben noch seine Aufgabe zu erfüllen, dann frage ich mich, was dies umgekehrt hieße: Hattest DU also alle Aufgaben erledigt und somit „ausgedient“, musstest „abtreten“, auch wenn DU dich noch so sehr dagegen wehrtest? Es war einfach keine weitere Aufgabe mehr für DICH vorgesehen, DU warst zu nichts mehr zu gebrauchen, weshalb DEIN Leben beendet werden musste? Ein Leben, dass DU noch leben wolltest, und die Liebe, die DU in dieser Welt noch zu geben gehabt hättest, gehörten nun mal nicht zu DEINEN Aufgaben, so sehr DU auch darum kämpfen mochtest?
Wo und nach welchem Maßstab werden diese Aufgaben verteilt? Dürfen also alle Menschen nur so lange leben, bis sie die ihnen aufgetragenen Aufgaben erfüllt haben?
Hoffnung macht mir Angst – die Hoffnung auf das „Leben“ nach einem „gelungenen“ Trauerprozess, in dem ich mich mit Blumen, dankbaren Erinnerungen, der Aussicht auf ein Wiedersehen nach dem eigenen Tod und mit der Betrachtung und Bereicherung des Lebensglücks der anderen trösten soll. Der Vergleich dieser „Hoffnung“ mit meinem verlorenen Lebensglück bringt mich in die Todeszone der Verzweiflung. Es scheint nicht vermittelbar, dass mir ein Restleben in Hoffnungslosigkeit eher aushaltbar erscheint.
Der greise Kopf
Der Reif hatt‘ einen weißen Schein
Mir übers Haar gestreuet;
Da glaubt‘ ich schon ein Greis zu sein
Und hab‘ mich sehr gefreuetDoch bald ist er hinweggetaut,
Wilhelm Müller
Hab‘ wieder schwarze Haare,
Dass mir’s vor meiner Jugend graut,
Wie weit noch bis zur Bahre
„Jugend“ und „schwarze Haare“ wäre in meinem Fall zwar übertrieben, doch viel zu weit fühlt es sich an bis „zur Bahre“…
Zu grauenhaft die Vorstellung, irgendwann demnächst und für die nächsten 10 Jahre beruflich funktionieren zu sollen, wobei ein reines Funktionieren bei weitem nicht ausreicht im Beruf der Grundschullehrerin. Danach vielleicht noch weitere 20 Jahre zu überstehen …
Eine Greisin zu sein, würde mich freuen, zurückgezogen und dankbar zurückblicken könnend auf ein zu Ende gelebtes gemeinsames Leben.
War diese Vision zu viel verlangt vom Leben, aus dessen glücklicher Mitte es mir den Geliebten riss, kaum dass wir begonnen hatten, unser gemeinsames Leben zu genießen Wie kann ich dankbar sein für etwas, das mir. das uns geraubt wurde?

Denken und wissen, dass Mam. für immer ganz und gar tot ist („ganz und gar“: ein Gedanke, zu dem man sich zwingen muss, bei dem man sich nicht lange aufhalten kann), … Es kann mir kaum mehr Leid zufügen als meine Trauer.
Roland Barthes, Tagebuch der Trauer
Immernoch gerate ich in den Wahn, dass alles doch nur ein Missverständnis gewesen sein kann, ein Irrtum, ein korrigierbarer Fehler. Immernoch kann ich das Niewieder nicht begreifen, Geliebter Stern. Das Niewieder ist zu groß für meinen Verstand und meine Seele. Es passt nicht in meinen Kopf und schon gar nicht in mein Herz.