Januar 2021
Der Tod hat DEIN Gesicht.
Der Verstand steht still,
wenn er an die Grenzen
des Entsetzens stößt –
doch da fängt alles erst an.
(Anne Philipe)
Aus meiner Chronik
Der Überallesgeliebte und ich hatten schließlich uneingeschränkt zueinandergefunden:
Am Ziel aller Wünsche angekommen, bestand ich bis vor wenigen Wochen praktisch aus Glück. und das Leben war bereit für uns unsere weitere gemeinsame Zukunft.
Jetzt aber wurde aus Zukunft Vergangenheit – so erbarmungslos vollendet, dass ich die Bilder der Erinnerung an sie nicht einmal im Geiste ertragen kann. Sie kommen mit so glühenden Schwert, dass sie nicht zugelassen werden können. Der einzige Gedanke, der sich mit ihnen verbindet, ist der, dass das wirkliche Leben zu Ende ist, kaum dass es begonnen hatte.
„Meine Seele stirbt!“, brüllt und kreischt es aus mir heraus, als ich die Todesnachricht erhalte, immer wieder, bis ich hyperventilierend durchdrehte.
Im letztem Nachglühen meines Verstandes bitte ich die Resiliente, mir, wenn schon nicht das Herz heraus-, so doch zumindest den Zopf abzuschneiden. Sie begleitet mich dahin, wo ich die absurde Realität auf die Netzhaut projiziert bekomme. Und ich lege mein dörres Haar an dein kaltes Herz.
Herzschlag meines Lebens: Jetzt säßen wir bei Wein und Musik und selig würde ich die beglückende Gegenwart deines inspirierenden Wesens spüren. Stattdessen liege ich da wie ein Stück totes Holz, starre an die Wand und versuche vergeblich zu begreifen, was passiert ist. Neben mir das kalte Bett.
Ich habe deinen Tod gesehen und weiß von ihm. Aber wehe, wenn etwas in mir beginnt, ihn auch zu fühlen: Schmerz und Verzweiflung sind beschönigende Umschreibungen für die schreienden Qualen, die mich verbrennen. In diesen schlimmsten aller schlimmen Momente jedes neuen Bewusstwerdens glaube ich, den Verstand darüber zu verlieren. Viel zu früh erlosch mein Stern und ich mit ihm. Verzweifelt und vernichtet bin ich unfähig, eine neue Vergangenheit zu starten.
Und heute …?
Ich wage es, die Tagebücher von damals zu berühren – vier Jahre später. Die Bilder der Vergangenheit kommen jetzt mit stumpfem Schwert. Trost bringen sie nicht.
Morgen wird unsere Wirklichkeit nur noch ein Bild der Erinnerung sein und das Wachen ein Traum. Kann ein Liebender sich damit begnügen, ein Bild zu umarmen? Kann ein Durstiger seinen Durst am Wasser einer Quelle stillen, die nur noch in seiner Vorstellung existiert? (Khalil Gibran)
Und:
Es ist ein Trost, zu wissen, dass man sich niemals trösten wird, dass man sich zunehmend erinnern wird. (Marcel Proust)
Mein damaliges Ich blieb zu großen Teilen in der Vergangenheit zurück, doch das Leben wirkt wieder in mir, wie eine kosmische Kraft, der man sich unmöglich entziehen kann. Ich respektiere diese Kraft zutiefst und folge ihr mit der mir möglichen Achtsamkeit.
Ich habe auch Fähigkeiten entwickelt und Beziehungen aufgebaut, die mir helfen, mich gut zurechtzufinden.
An den Rändern der Verwüstung habe ich behutsam Neues entstehen lassen unter dem Leitgedanken: Ich kann nur günstige Umstände schaffen in der Situation, in der ich mich befinde.
Und natürlich gibt es auch immer wieder Momente, die mich zu Boden werfen: Eine Melodie, eine Stadtansicht, ein Sprachakzent. Noch verstehe ich nicht immer, was damit gemeint ist, dass der Überallesgeliebte wirklich nicht wiederkommen kann. Ich nehme diese Irrlichter meines Geistes wahr und begegne ihnen mit Güte.
Das Nachbarbett ist weiterhin kalt, aber manchmal benutze ich beide Seiten.